Überfrachtung mit neuen Aufgaben schafft neue Probleme für Schulen, Lehrer und Schüler
Als überzogen und realitätsfremd bezeichnet der Philologenverband Niedersachsen den neuen Erlass des Kultusministeriums zur Beruflichen Orientierung. „Minister Tonne betreibt mit seinem Erlass und den darin enthaltenen Maßnahmen einmal mehr Augenwischerei. Ohne den erforderlichen Blick für das Sinnvolle und für die Schulen und Lehrkräfte Machbare und Zumutbare werden Ziele vorgegeben und mit neuen, überzogenen Aufgabenstellungen versehen“, kritisiert Horst Audritz, Vorsitzender des Philologenverbandes.
So sei vorgesehen, die Praxistage der Schüler mehr als zu verdoppeln, was einschließlich der erforderlichen Vor- und Nachbereitung eine deutliche Begrenzung des allgemein bildenden fachlichen Unterrichts nach sich ziehe. Zudem würden Schulen aller Schulformen des Sekundarbereichs verpflichtet, sowohl ein schuleigenes fächerübergreifendes Konzept zur Durchführung von Maßnahmen zur Beruflichen Orientierung zu erarbeiten als auch ein detailliertes Kompetenzfeststellungsverfahren verbindlich einzuführen und dies kontinuierlich zu dokumentieren. „Die Berufsorientierung in solch überbordendem Maß zu Lasten des Fachunterrichts zu erhöhen ist auch angesichts der zahlreichen bestehenden Probleme wie Unterrichtsversorgung, Lehrermangel und Stundenausfall gegenüber Schülern und Lehrern unverantwortlich. Dies lässt nur den Schluss zu, dass der Kultusminister und sein Haus den Fachunterricht nicht mehr als wesentliches Element schulischer Bildung betrachten“, so Audritz.
Besondere Kritik sei insbesondere an dem umfangreichen Kompetenzfeststellungsverfahren zu üben: Es stelle sich die Frage, welchen nachhaltigen Nutzen ein derart komplexes und arbeitsaufwändiges, vor allem aber auch fragwürdiges Verfahren haben solle. „Schüler im siebten Schuljahr haben noch ganz andere Vorstellungen von ihrer Berufswahl als in Jahrgang 11 oder 13. Welchen Sinn also eine aufwändige Potenzialanalyse in dieser Form hat, ist für uns nicht nachvollziehbar“, stellt Audritz klar.
Die Vielzahl der offensichtlich neuen Erfordernisse an die zeitlichen und personellen Ressourcen der Schulen würde durch die Ankündigung von 1000 Anrechnungsstunden zusammen für alle Schulen völlig unzureichend in Rechnung gesetzt. „Gemessen an den neuen Aufgaben für Schulen und Lehrkräfte sind diese Stunden weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein, die die zusätzlichen Belastungen in keiner Weise auch nur ansatzweise zeitlich ausgleichen können; gleichzeitig gehen dadurch aber wieder Stunden für den Fachunterricht verloren, was zu weiterem Unterrichtsausfall führt“, erläutert Audritz.
Dabei stehe außer Frage, dass eine angemessene Berufs- und Studienorientierung an allgemein bildenden Schulen erforderlich sei, um Schülern eine begründete Wahl weiterführender Ausbildungswege in Studium und Beruf zu ermöglichen. Diese Maßnahmen müssten aber den spezifischen Bildungsauftrag der jeweiligen Schulform berücksichtigen, was hier nicht der Fall sei, weshalb der Philologenverband in einer ausführlichen Stellungnahme den Erlassentwurf entschieden abgelehnt habe. „Eine dem gymnasialen Bildungsauftrag entsprechende schulformspezifische Differenzierung der Beruflichen Orientierung fehlt in dem neuen Erlass. Die nun durch Minister Tonne gepriesenen Maßnahmen werden die viel zu weit gesteckten realitätsfernen Ziele nicht erreichen können und sie sind daher schon deswegen zur Vermeidung von Frustrationserlebnissen ungeeignet; sie werden im Gegenteil neue schaffen, und zwar bei Schülern wie Lehrern“, betont Audritz.
Hannover, 17. Oktober 2018