Home AktuellesDas Abitur darf nicht zu einem Schein, der Studierfähigkeit vorgaukelt, verkommen

Das Abitur darf nicht zu einem Schein, der Studierfähigkeit vorgaukelt, verkommen

by hermelingmeier

Der Philologenverband Niedersachsen kritisiert in der Diskussion um die Zunahme der Einser-Abiturschnitte den Umgang des Kultusministeriums mit den statistischen Daten. „Wenn das Kultusministerium Werte eines Zeitraums von nicht einmal fünf Jahren, noch dazu über die Coronajahre, als Aussagebasis für einen Vergleich der Abitur-Ergebnisse zugrunde legt, zeigt dies doch einen fragwürdigen Umgang mit Statistiken“, stellt der Vorsitzende des Verbandes, Dr. Christoph Rabbow fest. Ein so kurz gewählter Zeitraum sei viel zu anfällig für statistische Abweichungen. „Hinzu kommt, dass sich die aufgestellte These, es läge keine signifikante Verbesserung der Einser-Abis vor, aus den Zahlen gar nicht ergibt. Wenn 2019 nach Ministeriumsangaben 1,13 Prozent einen Durchschnitt von 1,0 erreichten und 2024 zwei Prozent, dann sprechen wir hier schon nahezu von einer Verdopplung!“

Um eine valide und signifikante Auswertung vorzunehmen, wäre es geboten, einen deutlich längeren Zeitraum auszuwählen und auch weitere Zusammenhänge zu betrachten. Heute habe fast ein Viertel des Prüfungsjahrgangs 2023/24 in Niedersachsen eine Eins vor dem Komma, im Bundestrend ist es sogar jeder dritte Prüfling. Im Gegensatz dazu werde in Beruf und Wirtschaft immer wieder vom Rückgang der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Abgänger-Jahrgänge berichtet.

„An den Universitäten schießen Proseminare und Förderkurse wie Pilze aus dem Boden, um für einen Studiengang die notwendigen, offenbar an Schule nicht mehr vermittelten Kompetenzen im Nachgang zu erreichen. Das zeigt, dass das Abitur zwar eine Berechtigung zur Hochschule darstellt, aber längst nicht mehr alle Abgänger zu einem Studium befähigt. Das sollte es unserer Ansicht und nach Wortlaut des Niedersächsischen Schulgesetzes aber sein“, so Rabbow.

Das Abitur besitze nach wie vor seinen Stellenwert in der Gesellschaft und die Leistungen von Schülerinnen und Schülern der Abschlussjahrgänge sollen auch gar nicht kleingeredet werden. Dennoch muss jedem klar sein, dass sich hier in den letzten Jahren etwas verschoben hat. „Wenn jedes Jahr immer mehr Schülerinnen und Schüler bessere Noten als ihre Vorgänger-Jahrgänge erzielen, dann darf man eine Noteninflation oder eine Niveauabsenkung bei der Ursachensuche nicht einfach ausschließen“, erklärt Rabbow.

Aus Sicht des Verbandes spielen hier verschiedene Ursachen eine Rolle:

1.       Die Kompetenzorientierung von Aufgaben

Mit dem PISA-Schock zog die Kompetenzorientierung in den Unterricht ein. Zum Kompetenzerwerb gehört aber auch immer Fachwissen. Ohne Fachwissen ist eine solide Bewertung und Beurteilung überhaupt nicht möglich. Wenn Fachkenntnisse zurückgehen, dann müssen die Fragen zwangsläufig softer werden. Chemie ohne das Aufstellen von Reaktionsgleichungen, Geschichte ohne die Kenntnis wichtiger Jahreszahlen, Mathematik ohne Widerspruchsbeweis oder Erdkunde ohne Kenntnis über die Hauptstädte von Ländern bleiben lückenhaft. Kompetenzorientierung muss auf Fachwissen und Fakten basieren. Das gilt in Zeiten von Fake News mehr denn je.

2.       Aufgabenteile ganz ohne fachwissenschaftliche Komponente

Ein Grund für die Verbesserung der Noten ist auch ein zunehmender Anteil von Aufgaben im Anforderungsbereich 0, d. h., man braucht eigentlich gar kein Wissen mehr, um Aufgaben lösen zu können. Zusammenfassungen von vollständig im Material dargebotenen Aspekten oder das Erstellen von Fließdiagrammen ohne Verwendung jeglicher Fachkenntnisse fordern vielleicht die Lesekompetenz, einen gedanklichen Mehrwert haben sie nicht. Je mehr solcher Aufgaben Eingang in Klausuren und Prüfungen finden, umso weniger müssen die Schüler wissen und diese Folgerung gilt natürlich auch umgekehrt. Das ist eine fatale Entwicklung, die wir stoppen und umkehren müssen.

3.       Das Abspecken von Inhalten durch Corona-Vorgaben

Während der Corona-Pandemie wurden aufgrund der Unterrichtsausfälle Inhalte gestrichen. Bis heute haben wir den Wissensstand vor Corona noch nicht erreicht. Schülerinnen und Schüler sehen vielfach keine Notwendigkeit, Lücken, die in Zeiten der Pandemie entstanden sind, zu schließen. Oft hört man Aussagen wie: „Das weiß ich nicht, da hatten wir Corona.“ Hier muss endlich ein Umdenken in der Schüler- und Elternschaft stattfinden. Wir können es uns in einer globalisierten Welt nicht leisten, Fachinhalte, die einst verbindlich waren und zur Studierfähigkeit beitragen, brach liegen zu lassen. Wenn Absolventen anderer Länder dieses Wissen mitbringen, dann sind sie gerade in Zeiten von KI die Gewinner.

4.       Zunahme der Heterogenität in Lerngruppen

Benotungen hängen von der eigenen Stellung innerhalb der Lerngruppe ab. Durch den Aufwuchs in den Gymnasien in den letzten 20 Jahren, sind stärker heterogene Klassen und Kurse entstanden. Heterogenität führt dazu, dass Leistungen, die vor 20 Jahren gut waren, heute sehr gut sind. Der Maßstab verschiebt sich mit zunehmender Heterogenität und die Option heute immer binnendifferenzierende Maßnahmen anbieten zu müssen, führt zwangsläufig zu individuellen, aber nicht unbedingt gerechten Bewertungen.

„Natürlich gibt es zahlreiche weitere Aspekte, die sich in den Noten niederschlagen, klar ist aber: Wir sollten uns vom schönen Schein nicht täuschen lassen, denn eine Inflation von Abitur-Noten mit einer Eins vor dem Komma führt zu einer Verzerrung tatsächlicher Leistungsfähigkeit. Unsere niedersächsischen Schülerinnen und Schüler haben nach 13 Schuljahren eine faire Leistungsbewertung verdient, da nur diese bei der Wahl der Ausbildung eine verlässliche Bewertungsgrundlage bietet. Wenn wir den Stellenwert des Abiturs als Gradmesser der Ausbildungs- und Studierfähigkeit in Frage stellen, verlieren alle. Die Folge sind Frustration und Wettbewerbsnachteile bei den Absolventinnen und Absolventen sowie die Schwächung des Wissensstandortes Deutschland“, stellt Rabbow klar.

 

Hannover, 30.07.2025

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